Leseprobe:

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   Draußen auf Deck herrschte jetzt Stille. Doch nicht wirkliche Stille. Man hörte Schritte, Luken wurden auf- und zugemacht, und wenn Lena den Atem anhielt, konnte sie hören, wie die Männer schnauften. Auch im Zwischendeck unter ihnen suchten sie.
   Da flüsterte neben ihr Felix: "Und wenn sie die Kammer durchsuchen?"
   Lena wurde es eiskalt. Daran hatte sie nicht gedacht. Und jetzt? Sie lauschte auf die Geräusche um sie herum, Geräusche, die sie nicht zum ersten Mal ... Aber natürlich!
   Sie flüsterte: "Ich glaube nicht, dass uns was passiert, wenn uns jemand entdeckt."
   "Und warum glaubst du das?"
   "Die Männer müssen genau das wiederholen, was sie bei ihrem letzten Kampf getan haben. Sie können uns also nichts antun."
   "Und wenn das heute nicht der letzte Kampf ist?", flüsterte Felix. "Nicht der von vor zweihundertdreißig Jahren? Sondern ein anderer?"
   "Warum sollte es heute ein anderer sein?"
   "Weil du auf der Windsbraut bist."
   Das konnte wirklich so sein. Und wie weiter? Angestrengt überlegte Lena. Und da fiel ihr ein: "Selbst wenn sie in der Lage wären, uns was zu tun – warum sollten sie? Schließlich wollen sie alle durch mich von ihrem Fluch befreit werden."
   Doch da schüttelte Felix den Kopf. "Alle ist nicht gesagt. Vielleicht gehört es ja gerade zum Fluch, dass der Kapitän sich nicht erlösen lassen will."
   Richtig. Auch das konnte sein. Und nun? Lena fiel nichts mehr ein. Es blieb ihnen nur zu warten und zu hoffen, dass keiner der Männer hier in die Gewehrkammer kam.
   Unvermittelt fing draußen der Lärm wieder an. Viele Männer schrien durcheinander, Klirren und dumpfe Schläge waren zu hören. Und dieses Gebrüll, dieser Lärm, diese Schreie klangen aufs Neue so entsetzlich, so wild und grausam, dass Lena sich die Ohren zuhielt.
   Sie hoffte, dass bald wieder Stille einträte.
   Und wie ging es dann weiter? Sie durfte doch nicht die ganze Zeit hier in dieser Gewehrkammer hocken und abwarten. Sie war an Bord gekommen, um die Mannschaft der Windsbraut zu erlösen. Das tat man nicht, indem man einfach nur herumsaß. Sie musste etwas tun. Aber was?
   Doch was auch immer – sie konnte auf keinen Fall jetzt etwas unternehmen. Nach draußen in das Kampfgetümmel durfte sie sich nicht wagen. Lena fühlte sich elend. Sie saß hinter dem Gewehrständer, hörte auf den Lärm und wusste nicht, wie es weitergehen sollte.
   Und da flaute der Lärm wieder ab. Es begann erneut die Suche nach Männern, die sich irgendwo verkrochen hatten.
   Wie sollte das alles enden?
   Nur eines wusste sie genau: Sie würde dem Steuermann noch einmal begegnen. Aber was konnte sie dazu tun? Was wurde von ihr erwartet?
   Lena verschränkte die Hände und presste die Finger fest gegeneinander. Sie musste etwas tun.
   Und da hörte sie Schritte.
   Es waren Schritte in der Nähe. Jemand war in die Offiziersmesse gekommen. Unwillkürlich duckten sie und Felix sich tief hinter die Gewehre. Obwohl ihnen das kaum etwas nützen würde. Denn zur Tür hin hatten sie als Deckung nur die Schmalseite des Gestells.
   Die Schritte kamen näher. Waren nun draußen an der Tür.
   Und dann wurde die Tür aufgezogen.
   Was Lena zuerst sah, war die Laterne, die draußen am Haken gehangen hatte. Jemand leuchtete in die Kammer.
   Dann schob sich dieser jemand, gebückt wegen seiner Länge, durch die Tür.
   Lena blieb ein Schrei im Halse stecken.
   Es war der Kapitän ...
   

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