Leseprobe:

Zum bequemeren Lesen oder Ausdrucken als PDF-Dokument öffnen

   Das Geräusch, von dem sie geweckt wird, hat Kiumara niemals zuvor gehört.
   Sie liegt stockstill und horcht in die Dunkelheit.
   Es ist ein Sirren.
   Ein durchdringendes Sirren, bösartig wie das einer Hornisse.
   Aber es ist keine Hornisse.
   Einmal, weil das Sirren laut ist. Nicht übermäßig, aber doch so, dass es von einer wenigstens faustgroßen Hornisse stammen müsste. Vor allem aber: Es müsste eine Hornisse sein, die wie eine Libelle in der Luft steht und die Flügel schwirren lässt.
   Denn das Sirren verändert sich nicht - es ist ein vollkommen gleichförmiges Sirren.
   Ein solches Sirren gibt es nicht. Jedenfalls nicht in der Welt, aus der Kiumara kommt.
   Also ist sie drüben in der anderen Welt.
   Aber die andere Welt, so hat der Druide verkündet, wird ihrer bisherigen ähnlich sein. Zwar weit entfernt von der Heimat. Und es werden einige Sommer seit Antritt der Reise vergangen sein. Aber es wird eine ähnliche Welt sein.
   Und es wird eine helle Welt sein.
   Doch rundum ist es dunkler als die dunkelste Nacht. Sie liegt in undurchdringlicher Schwärze ...
   Und da begreift Kiumara.
   Sie ist nicht mehr in ihrer bisherigen Welt. In der anderen Welt aber auch nicht. Sie ist noch ...
   Hastig tastet sie nach rechts. Dort, neben ihr auf der Dachsfelldecke, müsste ihr Schwert liegen. Und da ist es. Sie kann die sieben Rillen am Griff fühlen. Und links von ihr? Die seitliche Lehne des Ruhebettes mit der gewebten Decke darüber.
   Sie liegt noch unten in der Erde.
   Sie ist in der Kammer aufgewacht. In der Kammer, in die man sie gelegt hat, weil sie ihrem Stamm als Wegbereiterin in die andere Welt vorausreisen soll, in die neue Heimat des Stammes. Zusammen mit Mágurix ...
   Ist Mágurix noch bei ihr?
   Kiumara liegt still und steif. Nicht, dass sie sich fürchtete. Ein Mädchen vom Stamme der Remi kennt keine Furcht. Aber die Antwort auf ihre Frage wird ziemlich entscheidend sein. Zum Guten oder zum Schlechten.
   Kiumara horcht in die Dunkelheit. Das Sirren hört nicht auf. Es scheint sogar lauter geworden zu sein. Und es fängt an zu schmerzen. Gleichförmig und durchdringend bohrt es sich in die Ohren. Es klingt bösartig und bedrohlich. Was wird geschehen, wenn sie nach Mágurix ruft? Sie muss vorsichtig sein. Aber sie muss auch Gewissheit haben. Kiumara atmet tief ein.
   "Mágurix?", flüstert sie.
   Angespannt lauscht sie. Das Sirren ist wirklich lauter geworden. Aber falls Mágurix drüben auf seiner Liege wach ist, hat er ihr Flüstern durch das Geräusch hindurch gehört. Seine Ohren sind scharf wie die eines jungen Ebers. Und natürlich müsste auch er geweckt worden sein. Kiumara horcht.
   "Mágurix ist hier."
   Langsam atmet Kiumara aus. Sie spürt, wie sich Wärme in ihrem Körper ausbreitet. Mágurix ist mit ihr. Er ist ihr Reisegeschwister und der Jüngere. Sie hat ihn zu behüten. Wäre er ihr auf der Reise zur anderen Welt verloren gegangen, hätte sie sich rechtfertigen müssen. Aber Mágurix ist mit ihr.
   Und auch er hat geflüstert. Er hat, der Großen Mutter sei Dank, erfasst, dass in dieser Lage Kampfgeschrei und blindwütiges Dreinschlagen nicht die Tat eines Helden wäre sondern die eines Narren.
   Sie flüstert: "Was denkst du? Was ist das für ein Geräusch?"
   "Das dünne Kampfgeschrei eines Feindes, der zu feige ist, sich zu zeigen. Erscheint er, wird Mágurix ihn vernichten."
   Gute Mutter! Ein Knabe noch, aber so großmäulig wie ein vom Met trunkener Krieger. Doch dass dieses Geräusch das Kampfgeschrei eines Feindes ist, das mag stimmen. Was für ein Feind aber? Wer könnte ... Es hat sich verändert! Aus weit geöffneten Augen starrt Kiumara in die Dunkelheit.
   Plötzlich ist das Sirren angeschwollen. Und es klingt nun schrill.
   Sie fasst nach ihrem Schwert, fest umklammert sie den Griff. Und dann schließt sie die Augen. Alle Kraft der Wahrnehmung soll sich in den Ohren versammeln ... Da! Etwas ist von der Kammerdecke gefallen, ein Erdbröckchen, ein Steinchen. Und wieder ... Und da bricht das Kreischen los. Das Sirren hat sich in heulendes Kreischen verwandelt, wie mit Dolchen sticht es in die Ohren, tobt messerscharf durch den Kopf und sticht und sticht ...
   Mit einem Mal ist es still. Das heulende Kreischen ist verstummt, lediglich in Kiumaras Kopf hallt es noch nach, dann aber schweigt es auch dort. Sie lauscht in die Dunkelheit ... Und da ... Das Kreischen beginnt erneut. Aber es klingt jetzt anders, nicht so laut, weniger schrill, fast zahm. Wieder fallen Erdbröckchen und Steinchen, das Kreischen wird leiser - es verschwindet! Nicht lange und es ist verklungen.
   Und nun? Hat der Feind sich zurückgezogen? Vielleicht sogar aufgegeben? Oder kommt das Kreischen wieder?
   Da ... ein Brummen. Ein tiefes Brummen, wie das eines Bären. Nur dass kein Bär so anhaltend und gleichförmig brummt. Es ist nicht hier in der Kammer, auch nicht in der Erde, sondern draußen ... draußen auf dem Hügel. Mit einem Mal hat Kiumara den Rundhügel vor Augen. Sie hat zugesehen, wie er über der Kammer aufgehäuft worden ist. Der Gang in die Kammer wurde natürlich erst nach ihrer und Mágurix' Abreise zugeschüttet. Wie mag der Hügel jetzt aussehen? Wie lange überhaupt sind sie ... Das Brummen ist plötzlich verstummt.
   Stille.
   Der Feind will sie zermürben, keine Frage. Tief atmet Kiumara ein und aus. Was ist das für ein Feind? Was wird er als nächstes tun?.
   Zuerst nichts.
   Es bleibt still. Nicht ganz allerdings. Täuscht sich Kiumara oder hört sie Stimmen? Menschliche Stimmen? Angestrengt lauscht sie. Aber diese Laute sind so schwach, dass es auch ein Rauschen in ihren Ohren sein könnte. Kiumara wartet.
   Da ... wieder ein Geräusch. Ein schleifendes diesmal. Leise zuerst, dann lauter - kommt er zurück? Schleicht der Feind sich an, um sie jählings wieder mit dem heulendem Kreischen zu überfallen? Kiumara liegt still und steif. Die Finger in die Ohren stecken ... Nein! Dazu wird sie der unsichtbare Feind nicht bringen. Sie wird standhalten ... Wieder fallen Bröckchen zu Boden. Dann Stille.
   Kiumara hält die Augen fest geschlossen. Versammelt die Kraft in den Ohren. Wappnet sich gegen das Kreischen ...
   Und da schlägt es ein.
   Ein Blitz flammt auf, gleißendes Licht schießt in die Augen, gleich muss der Donner kommen, aber er kommt nicht ... Und es war auch kein Blitz. Das gleißende Licht bleibt, brennt sich durch die geschlossenen Augenlider ...
   Was ist das?
   Hell wie die Sonne ... Ist es Sulis, die Göttin der Sonne? Doch nie hat man gehört, dass Sulis unter die Erde reist. Nein. Dieses Licht kann nicht die Sonnengöttin sein.
   Das Licht kommt vom Feind.
   Er will sie blenden. Jetzt auf keinen Fall, um der Großen Mutter willen, die Augen öffnen. Kiumara liegt mit zusammengekniffenen Lidern. Ihre rechte Faust umklammert den Griff des Schwertes. Dass sie kämpfen wird, ist keine Frage. Ob sie siegen wird, weiß sie nicht. Doch sie weiß: Sie und Mágurix sind ihrem Stamm in die andere Welt vorausgeschickt worden. Kommen sie dort nicht an, ist der Stamm der Remi verloren. Sie beide müssen erfüllen, was ihnen aufgegeben ist.
   Sie müssen siegen.
   Dieser Feind, der das Licht in ihre Kammer geschickt hat, muss besiegt werden.
   Kiumara liegt mit zusammengekniffenen Augen, die Faust um den Schwertgriff geklammert. Und so, alle Fasern zum Kampf gespannt, leistet sie einen Schwur. Bei allen Göttern, bei denen der Stamm der Remi schwört, gelobt Kiumara:
   Ich werde siegen.

*

   Der Deutz fing nach einer knappen halben Stunde an zu stottern.
   Bis dahin hatte er brav brummend seine Runden um den Hügel gedreht, so als wäre er ein ganz normaler Traktor. Aber das war er nicht. Wenigstens nicht, wenn Kathrin ihn fuhr. Saß der Vater auf ihm, machte der Deutz niemals Zicken. Bei ihr immer. Er war ein Traktor, der etwas gegen zwölfjährige Mädchen hatte. Zumindest gegen Kathrin.
   Sie hielt an, kuppelte die Zapfwelle zum Kreiselmäher aus und stellte den Motor ab. Fing der Deutz an zu stottern, kam zweierlei in Betracht: Entweder klemmte der Schwimmer im Tank oder es war Dreck im Filter der Kraftstoffleitung. Stocherte Kathrin zuerst im Tank, um den Schwimmer zu lösen, war es der Filter. Schraubte sie erst den Filter auf, war es der Schwimmer.
   Seufzend klappte sie den Deckel des Werkzeugkastens hoch, holte den siebzehner Ringschlüssel heraus und kletterte nach unten. Und da, als sie den Ringschlüssel auf die Verschlussschraube des Filters setzte, hatte sie eine Eingebung. Rasch kletterte sie wieder nach oben und schlug mit dem Schlüssel auf den Tankdeckel. Das tat sie mehrmals und kräftig. Darauf startete sie, gab Gas – und der Motor lief rund. Sie warf den Schlüssel in den Kasten, kuppelte die Zapfwelle ein und fuhr vorsichtig an. Brummend setzte sich der Deutz in Bewegung.
   „Na also“, sagte Kathrin. Zwar glaubte sie nicht wirklich, dass der Deutz sich ab jetzt manierlich benehmen würde. Aber vielleicht tat er’s ja doch, dann schaffte sie die Wiese bis mittags. Und da lohnte es sich noch, in die Stadt zum Schwimmbad zu radeln. Heute war der erste Ferientag und die anderen hockten bestimmt schon auf der Liegewiese beisammen.
   Kathrin blickte zurück, wo der Kreiselmäher das geschnittene Gras als einen Endloshaufen hinter sich ließ. Hoffentlich ging jetzt alles glatt. Wie den Deutz hatte der Vater auch den Mäher gebraucht gekauft und Ersatzteile waren schwer zu kriegen. Wenn ein Stein eines der Schneidmesser schartig schlug, war das meistens eine teure Sache.
   Es passierte immer wieder einmal. Denn im Wiesengrund tauchten plötzlich Steine auf, die vorher unter Garantie nicht da gewesen waren.
   „Sie wachsen“, meinte die Mutter. „Anscheinend wachsen sie irgendwie nach.“
   „Unsinn“, sagte der Vater. „Sie kommen von unten aus der Erde.“
   „Aber warum bleiben sie da nicht?“, fragte Michael. Er war acht und wollte immer alles ganz genau wissen. „Warum kommen sie hoch?“
   Doch da konnte der Vater bloß die Schultern heben. „Weiß ich auch nicht.“
   Kathrin hatte mal zu wissen geglaubt, warum die Steine hochkamen. Als kleines Mädchen war sie sich da ganz sicher gewesen. Sogar noch, als sie so alt war wie Michael.
   Jemand schickte die Steine nach oben.
   Sie blickte, während der Deutz in die nächste Runde ging, zum Hügel und versuchte, ihn mit den Augen von damals zu sehen.
   Da lag er, kahl und massig. Mit gerundeter, ebener Kuppe, als hätte ein Riese ihn geformt und geglättet.
   Und innen im Hügel, da saß, schwarz gewandet und düster, die Königin und sann auf Böses.
   Es war die böse Königin, die immer neue Steine nach oben schickte ...
   Das glaubte Kathrin natürlich nicht mehr. Außerdem wusste sie jetzt, dass der Sage nach die böse Königin in den Kalten Berg verbannt worden war und nicht in den Hügel. Doch als ihr der Großvater damals – sie ging noch nicht zur Schule – die Sage erzählte, da war sie noch nie am Kalten Berg gewesen. Den Hügel jedoch kannte sie von klein auf, man konnte ihn von ihren Zimmer im Dachgeschoss sehen, und fraglos war die Wohnung der schwarzen Königin darin.
   Sie blickte zu ihm hinüber. Kahl und gerundet wie er war, nahm er sich eigenartig fremd auf der Wiese aus. Nicht ganz geheuer sozusagen. Wenn irgendwo eine Königin saß und auf Böses sann, dann dort drinnen. Richtig mulmig konnte einem bei dem Gedanken werden ...
   Kathrin schüttelte den Kopf. Schluss jetzt mit diesen Kleinmädchengeschichten! Sie sollte sich lieber auf ihre Arbeit konzentrieren.
   Fast die Hälfte der Mahd hatte sie nun geschafft, und die Kreise, die sie um den Hügel fuhr, wurden immer größer. Sie stellte sich vor, wie die Wiese von hoch oben aus der Luft aussah. Wie eine Spirale zog sich das Band geschnittenen Grases, das der Kreiselmäher unverdrossen hinter sich ließ, rund um den Hügel. An einer Stelle wurde die Spirale senkrecht durchtrennt. Das war der Feldweg, der vom Hügel zur Straße führte. Von oben sah es aus, als hätte jemand ein geheimnisvolles Muster auf die Wiese gezeichnet. Jemand? Sie, Kathrin, hatte das getan! Also, wenn alles glatt lief, dann machte es richtig Spaß, mit dem Deutz rund um den Hügel zu brummen.
   „Total unwirtschaftlich!“ Im Frühjahr war der Mann von der Genossenschaft gekommen, um den Vater zu beraten. „Jede Menge ungenutzte Fläche. Lass den Hügel abtragen, Beckmann, und du kriegst ... Augenblick ...“ Er fing an zu rechnen. Aber der Vater hatte abgewinkt. „Kann ich nicht bezahlen. Und wenn ich’s könnte – das bringt doch nichts, aufs Ganze gesehen. Wir haben dann noch immer zu wenig Land.“
   Außer der Wiese am Hügel besaßen sie drüben auf der anderen Straßenseite die Weide, wo ihre beiden Kühe grasten, dann ein paar Felder auf dem Kalten Berg – es war zu wenig, um davon leben zu können. Also fuhr der Vater jeden Morgen in die Stadt zur Brauerei, wo er als Getränkefahrer arbeitete. Und im vergangenen Herbst hatten die Eltern im Haus eine Ferienwohnung eingerichtet. Aber bis jetzt bloß zwei Mal vermieten können. Allerdings wurde heute wieder jemand erwartet: eine Frau Professor. „Mit Sohnemann“, hatte die Mutter gesagt. „Da kriegt der Michael ein bisschen Gesellschaft.“ Und dann geseufzt: „Solche Feriengäste machen immer einen Haufen Mehrarbeit. Ich weiß wirklich nicht, ob sich das rentiert.“
   Manchmal jedoch hatte die Familie direkt Glück: Die Abrechnung der Genossenschaft für das vergangene Jahr war überraschend hoch ausgefallen. Nicht übermäßig, aber doch so, dass der Vater zu Kathrin sagte: „Deine Chancen stehen nicht schlecht.“ Zum Geburtstag in vier Wochen hatte sie sich ein neues Fahrrad gewünscht. „Was meinst du?“, hatte der Vater die Mutter gefragt.
   „Hm.“ Mehr war dazu von ihr nicht gekommen. Aber es war kein „Nein“ gewesen. Und das hieß, dass die Chancen tatsächlich nicht schlecht standen. Vielleicht klappte es ja wirklich in diesem Jahr.
   Kathrin atmete tief ein. Der Deutz zog friedlich brummend seine Bahn und die Sonne schien. Mit einem Mal roch Kathrin das frisch geschnittene Gras. Bestimmt würde sie die Wiese bis mittags fertig gemäht haben. Und dann konnte sie ... Klong!
   Kathrin stoppte sofort.
   Sie kuppelte die Zapfwelle aus und stellte den Motor ab.
   Es war still.
   Irgendwo zwitscherte ein Vogel, der Deutz knackte leise, aber sonst war es still. Kathrin saß, die Hände auf das Lenkrad gelegt, und dachte: Bitte lass es was andres sein! Aber sie wusste, dass es passiert war.
   Und das „Klong“ hatte ganz besonders hässlich geklungen.
   Langsam kletterte sie vom Deutz. Aber vielleicht war es ja doch nur ein Stein von der kleineren Sorte. Vielleicht war ja bloß ein Schneidmesser angeschlagen und man kriegte beim Eisen-Meyer sofort ein neues. Vielleicht ... Sie griff nach der Abdeckung am Kreiselmäher – und zögerte. Dann, mit einer raschen Bewegung, klappte sie die Abdeckung hoch. Und da lag er.
   Es war wirklich kein besonders großer Stein. Aber er hatte es geschafft, ein Schneidmesser komplett von der Kreiselscheibe abzuschlagen. Und wie es aussah, hatte die Scheibe selber auch etwas abbekommen. Die war hin. Der Vater musste sie gegen eine Ersatzscheibe tauschen.
   Und das hieß: Ihr neues Fahrrad konnte sie in den Wind schreiben.
   Verdammt! Sie sah zum Hügel. „Zufrieden, Frau Königin? Eine wirklich super gelungene Bosheit! Echt.“ Dann wurde ihr klar, dass sie laut gesprochen hatte und blickte sich um. Allein auf weiter Flur, natürlich. Trotzdem: Mit der Königin zu reden, sollte sie sich gar nicht erst angewöhnen. Aber unheimlich war das schon. Vorhin hatte sie an die böse Königin gedacht und prompt ...
   Schluss jetzt!, befahl sich Kathrin wieder. Was trödelte sie eigentlich hier herum? Das Geburtstagsfahrrad war futsch, da biss die Maus keinen Faden ab. Aber wenn sie sich beeilte, war sie noch vor zwölf bei den anderen im Schwimmbad. Also ab nach Hause. Doch vorher musste sie den Stein wegbringen. Sie kniete sich hin und zog ihn unter dem Kreiselmäher hervor. Ein neuer Wacker für die Pyramide.
   Alle Steine, die im Beckmannschen Wiesengrund auftauchten, wurden auf den Hügel geschafft. Wohin denn sonst? Zum Wiesenrain? An den Feldweg? Nein. Sie gehörten auf den Hügel und dort auf die Pyramide. Da störten sie nicht und waren ordentlich versorgt. Außerdem konnte jeder sie sehen. Die Familie Beckmann zeigte sozusagen ihre Steinesammlung her. Schaut mal, die haben wir alle auf der Wiese erwischt.
   Der Stein war schwerer, als er aussah, und Kathrin hatte zu tun, bis er auf dem Deutz neben dem Sitz verstaut war. Für die Fahrt zum Hügel wechselte sie auf den Spiralkreis der vorigen Runde, nahm den Grassschnitt zwischen die Räder und folgte ihm, bis sie auf den Feldweg stieß. Auf dem fuhr sie bis an den Hügel. Dort wuchtete sie den Stein vom Deutz, schleppte ihn hoch zur Pyramide und ließ ihn erst mal auf den Boden plumpsen.
   Aus der Ferne wirkte die Pyramide nicht besonders hoch. Vermutlich, weil sie ziemlich breit und gedrungen angelegt war. Aber als Kathrin nun dicht davor stand, musste sie, um die oberen Steine zu sehen, den Kopf ins Genick legen. Wer damit angefangen hatte, die Pyramide zu bauen, wusste keiner. Irgendein Beckmann war irgendwann auf die Idee gekommen, drei Steine auf die Erde zu legen und einen vierten oben drauf. Und Generationen von Beckmännern hatten daran weitergebaut.
   Kathrin stand vor der Pyramide, und plötzlich wurde ihr bewusst, wie lautlos es hier oben auf dem Hügel war. Kein Vogel zwitscherte, kein Blatt raschelte ... Es war vollkommen still. Totenstill, kam ihr in den Sinn – seltsamerweise. Denn was hatten Tote mit dem Hügel zu tun? Aber gespenstisch war diese Stille schon ...
   Doch jetzt sollte sie zusehen, dass sie nach Hause kam. Kathrin hob den Stein hoch, machte drei Schritte – und blieb stehen.
   Da lagen Steine.
   Da lagen drei Steine auf der Erde, die dort nicht hingehörten. Wer hatte ... Nein. Die waren aus der Pyramide herausgerutscht, dort war die Lücke. Zum Glück waren nicht noch andere nachgekommen.
   Kathrin legte ihren Stein wieder ab. Dann packte sie die drei Steine in die Lücke. Das machte sie so, dass auch für ihren Stein noch Platz blieb. Sie wollte ihn hochheben – und da beschlich sie ein Gefühl, als würde sie beobachtet. Als sähe ihr jemand aus der Nähe zu ... Rasch wandte sie sich um. Niemand war hinter ihr. Natürlich nicht. Aber das Gefühl war deutlich gewesen ... Hastig hob sie den Stein hoch und wuchtete ihn in die Lücke zu den anderen. Aufatmend machte sie sich auf den Weg hinunter zum Deutz.
   Sie war genau bis zum Fuß des Hügels gelangt, als das Gefühl sie wieder überkam. Nein, dieses Mal würde sie sich nicht umdrehen ... Moment mal ... die Lücke! Die Steine konnten nicht von selbst aus der Pyramide gerutscht sein. Jemand war auf dem Hügel gewesen. Kathrin drehte sich um ...
   Und da stand jemand.
   Da stand, an der Pyramide, eine Frau ... Nein, ein Mädchen. Groß, rotes, zu vielen Zöpfen geflochtenes Haar, langes Kleid mit Gürtel.
   Und das Mädchen stützte sich auf ein Schwert ...

*

   Zuerst war Kathrin nur verblüfft. Wo kam die denn her ...?
   Doch plötzlich ging ihr auf: Von nirgendwo! Unmöglich konnte dieses Mädchen sich über die Wiese dem Hügel genähert haben, ohne dass Kathrin es gemerkt hätte.
Eine Erscheinung ... Die böse Königin. So stark hatte Kathrin an die gedacht, dass sie ihr nun als Phantom erschien ... Unsinn! Die Königin war schwarz und düster. Und außerdem gab’s so was wie Phantome nicht.
Kathrin schloss die Augen. Kniff fest die Lider zusammen, zählte einundzwanzig, zweiundzwanzig und riss die Augen wieder auf ...
Da stand das Mädchen.
Kathrin starrte hinauf zu der rothaarigen Gestalt im langen, gegürteten Kleid, die unbeweglich stand, auf das Schwert gestützt – und Kathrin beobachtete. Eindeutig hatte sie den Blick auf Kathrin gerichtet.
Ein Phantom, das sie fixierte ...
In diesem Moment fühlte Kathrin den Wind. Es war bloß ein sanfter Windstoß, aber sie spürte ihn im Haar. Und da, ein wenig verzögert, bewegten sich die Stirnlocken der Gestalt oben auf dem Hügel ... Eine eingebildete Erscheinung, deren Haar sich bei einem echten Windstoß kräuselte ...?
Nein – dieses Mädchen war Wirklichkeit. Es musste sich hinter der Pyramide versteckt haben, bevor Kathrin gekommen war. Aber warum? Und was war das für eine Verkleidung? Dieses altertümliche Kleid, knöchellang und grünbraun gewürfelt? Mit einem Gürtel aus goldgelben Plättchen, die durch Ringe verbunden waren. Wirkte wie aus Metall gemacht, war aber bestimmt aus Kunststoff. Unter Garantie auch der dicke, offene Halsring, der so komisch verdreht war. Das Schwert allerdings sah echt aus. Richtig schwer. Und gefährlich scharf.
Kathrin holte tief Atem. Und rief: „Hey! Du da!“
Das große, rothaarige Mädchen rührte sich nicht. Unverwandt, vom Hügel herab, fixierte es Kathrin.
„Hey! Hörst du nicht?“
Das Mädchen stand ohne sich zu rühren.
Und da ging Kathrin los. Ohne zu überlegen, nur aus dem vagen Gefühl Das-wollen-wir-doch-mal-sehen-Gefühl heraus marschierte sie los, den Hügel hinauf, auf die Gestalt dort oben zu.
Die hielt den Blick weiter unbeweglich auf Katrin gerichtet und umgekehrt sah auch Kathrin sie an. Und sie sah: Im Gesicht dieses Mädchens war keine Freundlichkeit. Es war ein ernstes und hartes Gesicht. Und die Augen standen auch keineswegs still. Sondern gingen wachsam hin und her. Kathrin begriff plötzlich, dass mit diesem Mädchen nicht zu spaßen war. Unwillkürlich blieb sie stehen und dachte: Mit der sollte man sich besser nicht anlegen.
Und genau als Kathrin dies dachte, geschah es: Das Mädchen bewegte sich.
Es hob das Schwert, nur ein wenig, wandte sich der Pyramide zu, machte zwei, drei Schritte ... und verschwand.
Und zwar in der Pyramide.
Es war in die Pyramide hineingegangen.
Kathrin schüttelte den Kopf. Das gab es nicht.
Aber sie hatte es ganz genau gesehen.
Kathrin sah hinter sich, hinunter zum Fuß des Hügels. Da stand im hellen Sonnenlicht das vertraute Gespann: der Deutz, fest und sicher auf seinen breiten Reifen, hinter ihm der Kreiselmäher. Sie blickte wieder hoch zur Pyramide.
Das Mädchen war weg. Und natürlich hatte sie sich getäuscht. Einen Moment lang nicht richtig aufgepasst oder so was. Es konnte gar nicht anders sein, als dass dieses Mädchen hinter der Pyramide verschwunden war. Dort stand es nun. Und wartete. Auf sie ...?
Wieder blickte Kathrin zurück. Sie könnte jetzt einfach hinunter zum Deutz gehen, nach Hause fahren und – sich dort das Hirn zermartern, wer dieses Mädchen gewesen war. Und warum sie, Kathrin, vor ihm abgehauen war wie ein erschrecktes Huhn.
Sie sah zur Pyramide.
Das Schwert hatte gefährlich ausgesehen.
Na klar. Und sobald sie hinter die Pyramide kam, würde das Mädchen zuschlagen, zack, einfach so. Schluss jetzt!
Kathrin ging mit raschen, festen Schritten den Hügel hinauf, dachte nicht mehr nach, nur kurz ging ihr durch den Kopf, dass sie im Notfall ja wegrennen konnte, sie war die beste Fünfzigmeter-Läuferin der Klasse, aber das war nun wirklich Quatsch und da stand sie vor der Pyramide.
Und wenn das Mädchen nun doch ...? Plötzlich fühlte Kathrin ihre Haut ganz dünn werden, so wie damals, als sie klein war, und Freddy Krüger unter der Kellertreppe gelauert hatte. Sie schüttelte den Kopf. Und trat hinter die Pyramide.
Das Mädchen war nicht da ...
Hatte sich blitzschnell zur anderen Seite verzogen, spielte Verstecken ... Nein. Das tat es ganz bestimmt nicht! Trotzdem umkreiste Kathrin die Pyramide, erst in die eine Richtung, dann in die andere.
Das Mädchen blieb verschwunden.
Kathrin schloss die Augen. Es gab zwei Möglichkeiten. Die erste: Das Mädchen war tatsächlich in die Pyramide hineingegangen. Was man ausschließen konnte. Blieb die zweite: Kathrin sah Gespenster. Sie hatte eine Erscheinung gehabt. Von der sie, zugegeben, sehr wirklich angesehen worden war und deren Haar sich im Wind gekräuselt hatte. Aber das hieß ja nur, dass ihr Hirn in der Lage war, ihr ein sehr echt wirkendes Phantom vorzugaukeln.
Dort dr&uuuml;ben hatte es gestanden, das Phantom, auf sein Schwert gestützt. Kathrin ging zu der Stelle ... Aber ... Was war denn das? Sie ließ sich in die Hocke nieder.
Vor ihr im Boden war eine Vertiefung.
Es war ein knapp fingertiefes Loch, das nach unten spitz zulief.
Das Loch befand sich genau dort, wo das Phantom sein Schwert auf die Erde gestellt hatte.

Zurück zum Seitenanfang
Zurück zum Seitenanfang