Leseprobe:

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       Schlagartig wurde sich Lennart seiner und Katjas Lage voll bewusst. Sie waren eingesperrt, wirklich eingesperrt. Gefangen in einer Höhle ohne Ausgang. Wann sie hier wieder herauskamen, falls sie hier je wieder... Und da drehte er durch. Mit zwei Sätzen war er an der Sperre, trat mit aller Kraft dagegen, irgendwohin, wieder und wieder, fing dann an, mit fliegenden Händen Steine herauszureißen, trat wieder dagegen, an einer anderen Stelle dieses Mal, ohne nachzudenken, und er trat und riss, bis plötzlich zu ihm drang: »Lennart! Hör auf! Lennart!«
   Er hielt inne. Seine Lampe lag neben ihm auf dem Boden, sie leuchtete auf Katja, und die sagte: »Na, endlich.« Dann sagte sie: »Das bringt doch nichts, hier so herumzuwüten. Wer weiß, wozu wir unsere Kräfte noch brauchen.«
   »Hast Recht.« Tief atmete Lennart ein und aus. Dann hob er seine Lampe auf. »Okay. Also zurück zur Tür.« Er leuchtete auf die Sperre. »So eine verdammte Scheiße aber auch.« Und wollte sich mit einem letzten kräftigen Tritt verabschieden. Aber genau in diesem Augenblick rutschte ein Stein nach unten.
   Während Lennart noch verblüfft mit sozusagen trittbereitem Fuß diesem Stein zusah, wie er nach unten rutschte, folgte der nächste, und dann ging alles ganz schnell: Die Sperre stürzte ein. Sie sackte in sich zusammen, mit einem gemäßigten Poltern, es staubte auch, aber nicht sehr, und als alles wieder still war, und der Staub sich etwas gesetzt hatte, da war die Sperre um ein Drittel niedriger. Oben hatte sich eine Lücke aufgetan.
   Lennart stand und starrte auf die Lücke. Dann leuchtete er hinein. Dahinter war der Gang offenbar intakt. Hinter ihm sagte Katja: »Da muss irgendein Hohlraum im Schutt gewesen sein. Und den hast du zum Einsturz gebracht. Super.«
   Die Lücke war ziemlich genau so weit, dass man bequem hindurchkriechen konnte. Lennart drehte sich zu Katja um. »Riskieren wir’s?«
   Sie nickte heftig. »Klar.«
   Da kroch Lennart durch die Lücke. Das war kein wirkliches Problem, aber ganz so einfach und bequem, wie er sich’s vorgestellt hatte, ging es nicht. Zum einen war die Lücke über dem Schutthaufen enger und länger, als es ihm von außen vorgekommen war, so dass er sich mühsam durch eine Art Röhre schieben musste. Zum anderen bekam er plötzlich Angst, dass von oben Erde und Steine nachstürzten, und er in der Röhre verschüttet wurde. Einen Moment lang war er sogar versucht, sich rückwärts wieder nach draußen zu schieben. Und bei all dem irritierte ihn ein seltsamer Wind, der ihm um die Ohren pfiff, bis er sich klarmachte, dass im bisher abgeschlossenen, hinteren Teil des Ganges wohl ein Unterdruck entstanden war, der sich nun dem Druck im vorderen Teil anglich. Wäre er jetzt imstande gewesen (später war er es), die Ursache dieses Druckunterschiedes zu erkennen, hätte er Katja überredet, mit ihm wieder zur Höhlentür zurückzukehren.
   So aber folgte sie ihm durch die Röhre, und dann liefen sie beide, nun Katja vorweg, durch den Gang, den sie hinter dem Schutthaufen vorgefunden hatten. Hier war der Gang durchgängig aus groben Feldsteinen gemauert und absolut trocken. Den Boden hatte man mit Ziegelsteinen ausgelegt, und darauf ging es sich hervorragend. Zwar mussten Lennart und Katja ein wenig gebückt gehen, aber sie kamen flott voran.
   Der Gang war gleichmäßig gut erhalten und überall sauber gemauert. Lennart hatte seine Stablampe ausgemacht, Katjas Lampe vor ihm gab ja genügend Licht. Er hegte keinerlei Zweifel, durch den geheimen Gang zu gehen, von dem die Fingerhütin in ihrem dritten Verhör gesprochen hatte. Was aber würde sie am Ende erwarten?
   Wozu überhaupt hatte man so einen geheimen Gang gebaut? Lennart erinnerte sich, etwas über unterirdische Gänge gelesen zu haben, durch die man aus Burgen oder Städten herauskam, die belagert wurden. Aber dazu war der Ausgang dieses Ganges zu nah an der Stadtmauer. Ob er dazu gedient hatte, den Kontrollen an den Stadttoren zu entgehen? Als eine Art unterirdischer Schmuggelpfad?
   Lennart hatte vergessen, gleich auf die Uhr zu sehen. Als es ihm jetzt einfiel, waren sie wohl schon über fünf Minuten unterwegs. Was hieße, dass sie mehr als dreihundert Meter zurückgelegt hatten. Das wiederum bedeutete, dass sie nun unter der Stadt innerhalb des Mauerringes wären. Und da, mitten in seine Gedanken hinein, sagte Katja: »Ende«, und blieb stehen.
   »Was? Wie?«
   »Hier ist Schluss.« Sie stellte sich seitlich, so dass Lennart an ihr vorbeisehen konnte. Er knipste sein Lampe an.
   Es war eine Mauer. Man hatte den Gang mit einer Mauer gesperrt, einer fest und solide aus Ziegelsteinen gemauerten Wand. Auf den ersten Blick konnte man sehen, dass hier auf gar keinen Fall ein Durchkommen war.
   Lennart wurde ganz dumm zumute vor Enttäuschung. Sein Kopf leerte sich, und er dachte und fühlte nichts. Mechanisch wie ein Zombie ging er an Katja vorbei und trat gegen die Mauer. Nichts. Es geschah, natürlich, nichts. Er wandte sich ab. Und natürlich, so fiel ihm jetzt ein, war diese Mauer, zusammen mit der Sperre am anderen Ende, der Grund, warum hier im Gang ein Unterdruck entstehen konnte.
   Katja stand und sah auf die Mauer. »Wozu hat man die gebaut? Was wollte man mit ihr verbergen?«
   »Was?« Lennart schüttelte den Kopf. Fing jetzt Katja an, dumm im Kopf zu werden? »Den geheimen Gang wollte man verbergen. Was denn sonst? Man wollte ihn versperren.«
   »Dann hätte man den doch sinnvollerweise an seinem Eingang versperrt, oder? Diese Mauer steht aber offensichtlich so, als hätte man den Gang abgeschnitten.«
   Hm. Da war was dran. »Es könnte sein, dass auf der anderen Seite der Mauer etwas ist, das man noch brauchte.«
   Katja nickte. »Oder aber«, sagte sie sinnend, »es ist auf unserer Seite etwas, das man nicht mehr brauchte.« Plötzlich schnippte sie mit den Fingern. »Oder nicht mehr haben wollte.«
   Worauf wollte sie hinaus? Lennart kam nicht mehr mit.
   »Lennart, pass auf«, sagte Katja bestimmt, fast klang es wie ein Befehl. »Wir untersuchen jetzt die Wände, okay? Wenn du irgendwo etwas Auffälliges findest, einen Stein mit einer anderen Farbe oder so was... Nein, nicht dort.« Lennart hatte die Wand vor sich betrachtet. »Dort und dort!« Katja wies auf die Seitenwände rechts und links davon. »Wenn du also dort etwas Auffälliges findest, dann führt das dahin, wohin wir sollen.«
   Dann führt das dahin, wohin wir sollen...? Was Katja sagte, kam Lennart so geheimnisvoll und dunkel vor wie eine neue Botschaft der Fingerhütin. Aber okay. Während Katja die rechte Seitenwand zu untersuchen begann, nahm er sich die linke vor.
   Schon Minuten später hatte er etwas entdeckt. Es war ein Stein, der zwar keine andere Farbe hatte als die Feldsteine rundum und auch so unregelmäßig geformt war wie die. Aber er hatte, anders als die anderen Steine, eine glatte Oberfläche. Der Stein war nicht mehr als handtellergroß und befand sich in etwa Kniehöhe über dem Boden. Er wäre Lennart niemals aufgefallen, hätte er nicht nach etwas Ungewöhnlichem gesucht. »Katja«, sagte er, »ich glaube, ich hab was.« Und er zeigte auf den Stein.
   Die besah ihn sich, überlegte kurz, trat dann plötzlich mit dem Fuß dagegen... und die Wand tat sich auf.
   Ein Teil der Wand schwenkte von ihnen weg, langsam irgendwohin nach innen hinein, und es hatte sich eine Tür geöffnet, die, unregelmäßig und gezackt geformt, bis dahin Teil der Gangwand gewesen war. Nie hätte man sie in dem unverputzten und grob gefugten Mauerwerk entdecken können. Mit einem Mal kam sich Lennart vor wie in einem Indiana Jones Film. Nur: Das hier war Wirklichkeit.
   Er sagte: »Okay, sehen wir nach, was da drinnen ist.«
   Katja sah ihn an, mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, den er ängstlich genannt hätte, wenn sie vorhin nicht so bestimmt gesprochen hätte. »Kannst du dir nicht denken«, fragte sie, »was hinter dieser Tür ist?«
   Er schüttelte den Kopf. Tatsächlich konnte er sich nicht das Geringste denken. Was er kurze Zeit darauf unbegreiflich finden würde. Jetzt aber sagte er: »Also ich geh dann rein, okay?«
   Katja nickte stumm, und er trat durch die Öffnung.
   Was er zuerst sah, und zum Glück hatte er vor seine Füße geleuchtet, waren aus Ziegeln gemauerte Stufen, die nach unten führten, nur etwa ein Dutzend, aber es gab kein Geländer, und da hätte er übel fallen können. Vorsichtig stieg er hinunter und ließ dann den Strahl der Stablampe wandern.
   Ein Keller schien das zu sein, viel kleiner als die Höhle, für einen Keller jedoch ziemlich groß. Und hoch. Lennart sah eine gewölbte Decke, ein Gewölbe war das, fiel ihm ein, und an der Gewölbedecke hing eine Kette. Nein, die hing da nicht einfach, sondern sie war über eine Rolle geführt, und die war an der Decke festgemacht. Das eine Ende der Kette, mit einem Haken daran, hing bis fast zum Boden herab. Das andere Ende führte von der Rolle schräg nach unten zu einer Art Winde mit Kurbel. Lennart schwenkte die Lampe ... ein Stuhl mit Armstützen an der Wand rechts von der Treppe, daneben noch zwei. Links von der Treppe stand etwas, das wie ein Rednerpult aussah, nein, das war ... aber natürlich – das war ein Schreibpult ... Plötzlich erkannte Lennart: Er stand in der geheimen Kammer, in der die Fingerhütin verhört worden war.
   Hastig schwenkte er den Lichtstrahl zurück auf die Winde mit der Kette, ließ ihn dann langsam weiterwandern, und da war er, der Folterstuhl ...
   
   

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