Leseprobe:
   
       Vorsichtig zog Kratzer sein Bein an und trat zu. Scheppernd spannte sich die Kette, der Fußreif schlug schmerzhaft gegen den Knöchel. Wieder nicht getroffen. Allmählich begann Kratzer diese Bestien zu fürchten. Ständig lagen sie auf der Lauer und machten sich sofort an ihn heran, wenn er einschlief. Bisher hatten sie nur seine Schuhe angebissen, aber das konnte sich jederzeit ändern. Zeitweilig glaubte er, wenigstens zehn Ratten auf einmal ausgemacht zu haben. Als ob das Ungeziefer draußen nicht genug zu fressen hätte.
   Den fünften Tag lag er nun schon in diesem stockfinsteren Loch. Wenn seine Annahme stimmte, dass der Knecht wie üblich die Suppe zweimal täglich brachte, musste die letzte eine Morgensuppe gewesen sein. Also ging es jetzt wohl auf Montagnachmittag zu. Er würde später den Knecht fragen, obwohl das sinnlos war. Denn der antwortete ihm nicht, vermutlich war es ihm so befohlen worden.
   Kratzer lächelte grimmig vor sich hin. Wenn der Gehring dachte, ihn dadurch mürbe machen zu können, dass er ihn über die Zeit im Unklaren ließ, hatte er sich getäuscht. Auch durch die Verhöre, die er hier im Verlies in unregelmäßigen Abständen mit ihm anstellte, würde er ihn nicht weich kriegen, da konnte dieser wild gewordene Ratsherr brüllen oder freundlich tun, wie er wollte. Angst hatte Kratzer lediglich davor, unmäßig lange in diesem Loch angekettet zu bleiben. Aus Erfahrung wusste er, dass er, nach einer gewissen Zeit in der schweigenden Dunkelheit, gestehen würde – aus Furcht, verrückt zu werden. Ganz abgesehen davon, dass ihn Kälte und Feuchtigkeit krank machen würden – wenn ihn nicht vorher die Ratten gefressen hatten.
   Aber lange konnte ihn auch der Gehring hier nicht festhalten – zwei gefälschte Siegel waren schließlich kein Kapitalverbrechen. Die schlimmste Strafe, die dabei herausspringen konnte, war, dass er aus der Stadt gejagt wurde. Aber Kratzer hoffte, billiger davonzukommen. Nur: Dazu durfte er keinesfalls gestehen.
   Plötzlich richtete er sich auf und lauschte. Sollte er sich dermaßen in der Tageszeit verschätzt haben? Aber kein Zweifel – das waren die hallenden Schritte des Knechtes, der die Abendsuppe brachte. Nun gut, wieder ein Tag rum. Beunruhigend war nur, dass der Gehring ihn heute nicht verhört hatte. Was hatte das zu bedeuten?
   Licht drang durch die Ritzen der Tür. Krachend wurden die Riegel zurückgeschlagen und Kratzer schloss geblendet die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er den Knecht über seine Füße gebeugt. Beim Schein eines brennenden Kienspans mühte er sich mit den Schlössern der Fußfesseln ab. Kratzer seufzte tief auf. Er kam frei.
   »Los! Mitkommen.« Der Knecht hatte die Fesseln offen und stieß Kratzer zur Tür. Er stolperte in den Gang. Dort hatte sich ein zweiter Knecht aufgebaut.
   »Nichts da. Hier geht's runter«, sagte der, als Kratzer sich nach rechts, Richtung Ausgang, wendete.
   Noch begriff Kratzer nicht. Erst als ihn die Knechte den niedrigen Gang entlang um mehrere Ecken führten und sie dabei immer tiefer zu gelangen schienen, dämmerte es ihm: Ins Waagloch! Sie brachten ihn ins Waagloch, in das Folterloch.
   Kratzers Magen verkrampfte sich und ihm wurde schlecht. Schwankend blieb er stehen. Er presste die Hände vor den Bauch und übergab sich.
   »Mann«, sagte der Knecht hinter ihm und lachte. »Der kotzt ja schon, bevor's losgeht. Na, dich werden sie schnell weich haben.«
   Das brachte Kratzer zu sich. Er richtete sich auf und ging weiter. Fieberhaft überlegte er. Wegen zwei gefälschter Siegel eine peinliche Befragung? Unmöglich. Der Gehring wollte ihm Angst einjagen. Es war sogar die Regel, dass man Gefangenen, die lange leugneten, die Folterwerkzeuge zeigte. Viele gestanden dann, wie Kratzer wusste. Aber er nicht. Er würde sich nicht einschüchtern lassen.
   Als Kratzer durch einen niedrigen Einlass gestoßen wurde, hatte er sich wieder gefasst. Beinahe neugierig sah er sich um. Dies also war das Waagloch, von dem die Leute schaudernd hinter vorgehaltener Hand munkelten. Furchterregend war das nicht, was er im flackernden Schein zweier Fackeln erblickte: zwei gewöhnliche Armstühle an der Wand neben dem Einlass, etwas entfernt davon ein Stehpult, auf dem ein Talglicht brannte und einige Hocker. Er ließ den Blick wandern, aber mehr konnte er nicht erkennen. Anscheinend war das Gewölbe höher und weiter, als er es so tief unter der Erde erwartet hatte; der Fackelschein reichte nicht hin, um es auszuleuchten. Angestrengt starrte Kratzer in die Dunkelheit. Dort hinten, da mussten die Gerätschaften sein. Aber sosehr er sich mühte, er konnte sie nicht sehen. – Er ging auf einen Hocker zu und wollte sich setzen. »Stehen bleiben!«, schnauzte der Knecht, der vorhin gelacht hatte. »Rühr dich nicht, bis die Herren kommen.«
   Kratzer brauchte nicht lange zu warten. Hinter einem mit einer Fackel vorausleuchtenden Knecht betrat Gehring das Gewölbe, angetan mit pelzgefütterter Schaube und Barett. Klar, für einen Ratsherren war es sonst hier zu kalt. Auf Gehring folgte der Ratsherr Ernst. Nun gut, wenn der Gehring eine peinliche Befragung vortäuschen wollte, dann musste er einen zweiten Ainunger mitbringen. Der war üblicherweise dabei, das wusste Kratzer.
   Jetzt kam der Schreiber Ostertag. Er trug einen Kasten unter dem Arm und eilte sofort zum Pult, wo er Schreibzeug und Papier auspackte. Die beiden Ratsherren hatten sich in die Armstühle gesetzt.
   Kratzer sah zum Eingang. Es kam niemand mehr.
   Schweigend winkte Gehring, und einer der Knechte stellte einen Hocker vor die Ratsherren, drei Schritt von ihnen entfernt.
   »Setzt Euch!« Kratzer ließ sich nieder.
   Wieder winkte Gehring und die Knechte verließen das Gewölbe, die Tür wurde geschlossen.
   Gehring sagte zu Ostertag hinüber: »Ab jetzt protokollieren.« Dann sah er Kratzer an. »Meister Kratzer. Es erübrigt sich wohl, Euch zu sagen, warum Ihr an diesem Ort verhört werdet. Ich ermahne Euch in aller Form, heute im Guten zu bekennen. Andernfalls wenden wir Mittel an, die Euch die Zunge lösen. – Habt Ihr in zwei weiße Lodentücher die Siegel eingenäht und diese dem Herrn Frickinger geliefert?«
   Kratzer blickte ihm fest in die Augen. Langsam sagte er: »Ich bleibe dabei, weil es die Wahrheit ist: Ich habe zwei weiße Lodentücher zum Kaufherrn Frickinger getragen. Aber die Siegel daran waren recht. Wenn zwei falsche Loden gefunden wurden, die ich gearbeitet haben soll, dann muss ein anderer mein Mal nachgemacht haben.« Und er fügte hinzu: »Dies ist meine letzte und letztendliche Aussage.« Er wusste, dass mit dieser Formel das endgültige Geständnis vor dem Urteil bezeichnet wurde.
   Die Ratsherren verzogen keine Miene.
   »Meister Kratzer«, sagte Gehring. »Ich ermahne Euch wiederum, die Wahrheit zu bekennen. Ich frage nochmals im Guten: Habt Ihr die Siegel gefälscht? Ja oder nein.«
   »Nein.«
   »Ostertag!«
   Der Schreiber lief zur Tür und öffnete sie. Der Knecht mit der Fackel trat ein. Gehring zeigte in den Hintergrund des Gewölbes. »Leuchten.«
   Der Knecht trat vor und hob die Fackel.
   »Meister Kratzer. Erhebt Euch. Sagt, was Ihr dort seht.«
   Langsam stand Kratzer auf und drehte sich um. Was er sah, ließ seinen Magen zusammenkrampfen und die Übelkeit wieder aufsteigen. Er biss die Zähne zusammen. Jetzt bloß keine Regung zeigen. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass ihm dieser Anblick so zusetzen würde. Denn natürlich kannte er die Geräte – jeder kannte sie, auch wenn er sie noch nicht gesehen hatte. Aber es war etwas anderes, draußen davon zu reden, als ihnen hier im Waagloch gegenüberzustehen. Kratzer verstand plötzlich, warum viele angesichts der Folterwerkzeuge gestanden. Er riss sich zusammen. »Die sind nicht für mich«, dachte er. »Die sind nicht für mich«, wiederholte er mehrmals bei sich. Das half. Er entspannte sich.
   »Nun, Meister Kratzer, was seht Ihr?«
   Kratzers Stimme war ruhig, als er sagte: »Einen Stuhl sehe ich, mit den Daumenstöcken. Und unten am Stuhl – das sind wohl die Stiefel. Das Seil, das von der Decke hängt, ist zum Hochziehen.«
   »Ich merke, Ihr wisst Bescheid. Aber ich bezweifle, dass Ihr Euch vorstellen könnt, wie tauglich die Gerätschaften sind.« Gehrings Stimme brach sich im Gewölbe, sie schien sich von ihm gelöst zu haben, und Kratzer überkam die Vorstellung, dass der Ratsherr aus dem Dunkeln hinter dem Folterstuhl zu ihm sprach.
   »Der Daumenstock ...«, sagte Gehrings Stimme. »Wisst Ihr, dass er sich so weit zuschrauben lässt, bis Euer Daumen dünn wie Papier ist? Nie wieder könnt Ihr beim Weben die Fäden knüpfen. – Und die Stiefel – damit werden Euch die Beine zerquetscht und gebrochen, dass Ihr den Rest Eures Lebens auf Knien rutscht.« Die Stimme wurde lauter. »Das Seil endlich – zum Hochziehen sagt Ihr? Richtig. Aber haltet Euch vor Augen, dass Eure Hände vorher auf dem Rücken zusammengebunden werden. Und daran wird man Euch hochziehen.« Die Stimme senkte sich. »Das haltet Ihr nicht aus, Kratzer. Das alles haltet Ihr nicht aus. Niemand hält es aus. – Dreht Euch um. Setzt Euch.«
   Gehring winkte und der Knecht verließ das Gewölbe.
   Sich vorbeugend sagte der Ratsherr: »Ihr habt nun gesehen, wie wir Euch traktieren können. Und, Meister Kratzer, täuscht Euch nicht: Wir werden es tun, wenn Ihr nicht gesteht. – Ich frage Euch: Habt Ihr die Siegel gefälscht? Denkt gut nach, bevor Ihr antwortet. Das war das letzte Mal, dass ich gütlich frage.«
   »Nein«, sagte Kratzer schnell, »da brauch ich nicht nachzudenken.« Dann zögerte er doch. Wenn nun ... aber wegen zwei Siegel die Folter? Niemals! Der Gehring drohte nur. Nein, nicht noch zu guter Letzt nachgeben. »Ich bleib dabei«, fuhr er fort. »Meine Loden waren recht, jemand muss mein Mal gefälscht haben.« Tief atmete er ein. Jetzt war es überstanden. Sie hatten ihn nicht kleingekriegt.
   Gehring wechselte mit Ernst einen Blick. Der zuckte andeutungsweise mit den Achseln, Kratzer sah es mit Befriedigung.
   »Gut, Meister Kratzer«, sagte Gehring. »Ihr habt es so gewollt. – Ostertag!«
   Der Schreiber öffnete die Tür und rief hinaus: »Meister!«
   Kratzer erstarrte. Was sollte das heißen? Aber er wusste es – wusste es, noch bevor sich die massige Gestalt des Meister Pfolmer durch den Einlass schob.

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